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Astrid Debes

Abriß
(1999)
 

„Wann, wenn nicht jetzt.“ 

Ich gehe langsam bergan. Der Schnee beginnt. Schaue ich hinauf, sieht es aus, als führe der Weg direkt ins Blau. 
Früher begeisterten mich solche Ausblicke. Die Illusion des Unwirklichen, Märchenhaften, Wunderbaren. 
Ich benutze den Skistock. Ich darf nicht stürzen und gehe deshalb seitlich im tiefen Schnee, taste jeden Schritt ab, stemme den Stock fest in den Boden. Oben angekommen läuft mir der Schweiß herab. Kein überströmendes Glücksgefühl, es doch geschafft zu haben. Ein kurzer Blick in die Weite. Berge, Häuser, Wiesen, alles liegt so da wie vor zwei Jahren. So ist das. Weiter denke ich nicht. Nicht umsonst gehe ich einen Umweg, um nicht am Friedhof vorbei zu müssen. 
Wie lange wird es dauern? Werde ich jemals gelassen darüber sprechen können? 
Ich blicke zu Boden und gehe, jeden Schritt ausbalancierend, zur Gaststätte. 
Ich bin der einzige Gast. Sitze ich, fällt es nicht auf, daß ich eine Männertrainingshose trage,  eine Hose, die über den Verband paßt. Ich bestelle eine heiße Zitrone und eine Bockwurst. 
Die Erschöpfung ist groß. Ich straffe mich, die Schultern gehen zurück, der Kopf hebt sich. Zwei Jahre. Das Radio , eine Vormittagssendung mit Musik und Plauderton. Die englischen Polizisten sollen Fahrräder bekommen. Ein Versuch zeigte, daß in London ein Polizist mit dem Fahrrad am schnellsten ist. Musik. Inzwischen ist ein junger Mann gekommen und beginnt unter Anleitung der Wirtin Einladungskarten zu schreiben. Beide sitzen zwei Tische weiter und ich bin zufrieden, daß ich unbehelligt bleibe. Eine Phase. In zwei Wochen werde ich vielleicht darauf warten, angesprochen zu werden. 
Im Radio plaudert man wieder. Die verschiedenen Formen, einander zu begrüßen, werden vorgestellt. Guten Tag, Grüß Gott. Unwillkürlich verkrampfe ich mich, muß ich alle Kraft aufbieten, um sitzenzubleiben. Im Plauderton wird auch der Hitlergruß erwähnt. Ich sitze steif und aufrecht. Ich darf nicht fortlaufen, mich verstecken vor einer Welt, die über das Leid plaudern kann. 
Ich warte, bis wieder Musik ertönt. Dann erhebe ich mich. Ich weiß, daß die ersten Schritte schwerfallen. Ich gehe zurück zu dem Weg, bei dem es von unten so aus-sieht, als führe er geradewegs in den Himmel. 
Bergab ist es schwerer als bergauf. Ich rutsche, und meine Beine zittern, als ich endlich auf festem Boden stehe. 
So beginnt es wieder. 
 

Wann begann es? 
Welches Bild ist das erste? 
Suchen wir nicht unbewußt aus den Bildern, die im Dunkel liegen, eines, das uns ange-nehm ist? 
Die Erinnerung, die ich zur ersten machen möchte: 

Ich stehe im Hof. In der Nacht fror es, die Luft ist voller Kälte und riecht nach Schnee. Ich habe eine große dicke Strickjacke an, stecke die Nase in die Luft und denke: Das ist der Herbst. So war es, als letztes Mal der Herbst kam. So ist das, wenn es Herbst wird. Der Geruch, die Kälte, die Ahnung von Schnee und dieses prickelnde Gefühl. 
Jetzt wird es schon schwierig. Ist wirklich Begierde dabei, Lust? 
Wie schwer, die Wahrheit zu finden, wenn Jahrzehnte das Klischee vom Blick nach vorn, entgegen der aufgehenden Sonne, allgegenwärtig war, Lebensfreude und Fröhlichkeit zu festgelegten und angeordneten Daseinsformen gehörten. 
Danach nach Anfängen suchen. 

 Je weiter Du fort bist, 
 je näher bei mir, 
 je länger Du fort bist, 
 um so eher bei mir. 
 Du bist mir notwendiger 
 als das tägliche Brot ist. 
 Du bist mir lebendiger, 
 je länger Du tot bist. 

Das Gedicht finde ich in der alten Mappe, in der meine Großmutter die für sie wichtigen Dinge aufhob. 
In der Stube der Großeltern hängt ein Bild, von Efeu umrankt. Ein Porträt eines jungen Mannes, nach einer Fotografie gezeichnet. Auf die Frage, ob die Zeichnung ähnlich sei, antwortete der Pfarrer: Ja, so hätte er ausgesehen, wenn er wiedergekommen wäre. 
Am 6. Juni, 3 Tage vor meiner Geburt, erscheint in der Thüringer Landeszeitung folgende Anzeige: 
„Am 27. März fiel bei den harten Kämpfen im Osten unser innigstgeliebter, herzensguter, jüngster Sohn, mein einziger Bruder und Freund, unser lieber Enkel und Schwager, der Oberfähnrich und Kompanie-Führer Walter H. ,Inhaber des E.K. 2 und desVerwundeten-Abzeichens im Alter von 21 
3/4 Jahren. Er starb an der Spitze seiner Kompanie, als er in letzter Einsatzbereitschaft sich immer wieder dem anstürmenden Feind entgegenstellte. Sein Regiments-Führer schreibt: „ Wir verlieren in Walter einen beliebten Kameraden, einen schneidigen, stets einsatzbereiten Soldaten, seine Kompanie einen vorbildlichen Führer.  Niemand hat größere Liebe denn die, die ihr Leben lassen für ihre Brüder. 
In unvergeßlicher Liebe und tiefem Schmerz: 
Die Gedenkstunde findet am Sonntag, dem 11. Juni, nachmittags 2 Uhr statt.“ 
Zwei Tage nach meiner Geburt. 

Er brauchte nicht mehr in den Krieg, sagte meine Großmutter. Er brauchte nicht. Er hatte ein steifes Bein. Oft sagte sie die Sätze während meiner Kindheit. Ihr Mund bekam einen schmerzlichen Zug. Er sagte, er müsse ... 
Warum mußte der Walter wieder in den Krieg? 
Viel später hörte ich eine Antwort. 
Er könne nicht mehr weiterleben. Er habe zuschauen müssen, wie Juden umgebracht worden seien. Nein, er könne nicht mehr weiterleben. 
Hat er den Tod gesucht? Hat er dem Schicksal die Antwort überlassen wollen, ob Leben möglich sei? 

Ein Brief : Eine Einladung zum Klassentreffen anläßlich des 30. Jahrestages der Schulentlassung. 
Das Städtchen liegt im Sperrgebiet. Seit 26 Jahren bin ich nicht mehr dort gewesen. Ich steige aus und mache die alte Erfahrung neu, daß die Wege von damals klein und eng wurden. 
Ich werde in dem Haus übernachten, in dem wir wohnten. Ich gehe die Steinstufen hinauf, öffne die braune Holztür, stehe vor der gläsernen Flurtür. 
Ich klingele. Mein Gesicht ist gerötet, das Herz klopft. Aber im tiefsten Innern bleibt alles fremd. Ich horche auf den Klang meiner Schritte auf dem Steinfußboden. Er ist ein anderer geworden. 
Die Frau, die jetzt hier wohnt, eine gute Bekannte meines Vaters und seiner zweiten Frau, zeigt mir mein Zimmer. Dann gehe ich ins Bad. Die Badewanne ist neu, steht aber an der gleichen Stelle wie die alte. Während ich mich abtrockne, schaue ich durchs Fenster. Die Aussicht ist unverändert, aber es rührt sich  nichts in mir. Hilflos lächle ich meinem Spiegelbild zu. Auch der Spiegel hängt an der alten Stelle. 
Die Frau und ihr Mann laden mich zum Kaffee ein. Lebensläufe werden skizziert, Fotos gezeigt. Die Frau erzählt. Plötzlich spricht ihr Mann dazwischen: 

Blödem Volke unverständlich 
treiben wir des Lebens Spiel, 

ich fahre fort: 

Gerade das, was unabwendlich, 
fruchtet unserm Spott zum Ziel, 
magst es Kinderrache nennen, 
an des Daseins tiefem Ernst. 
Wirst das Leben besser kennen, 
 wenn du uns verstehen lernst. 

 Ja, dieser Spruch hing  im Wohnzimmer meiner Eltern. Zwischen anderen Sprüchen. 
Ein schöner Spruch, sagt der Mann. Ich antworte das, was ich mir in vielen Nächten der letzten Jahre überlegte: 
Nein, sage ich. Für mich ist es kein schöner Spruch. Ich gehöre zum blöden Volk. 
In Gedanken füge ich hinzu: Es ist ein Vers, der schwach macht. Ein Geängstigter, Verletzter muß ihn geschrieben haben. 
Ich gehe durch die Hintertür auf den Hof. Hier beginnt die Erde ein wenig zu schwanken. In den Nächten der Krankheit betrat ich öfters im Traum Hof und Garten. Er war verändert, etwa so, wie ich ihn jetzt  sehe. 
Der Schuppen fehlt. Ebenso der Zaun, der den Hof vom Garten trennte. Über eine kleine Treppe trete  ich jetzt direkt in den Garten. 
Als ich im Traum über diesen Rasen ging, war ich todkrank. Ich ging durch den Garten, in dem es grünte und blühte und wußte, ich gehörte nicht mehr dazu. Gleich würde ich ertappt werden, gefragt werden, was ich hier wolle. 
Dann schrak ich hoch und war froh, wenn die Uhr auf dem Nachttisch neben meinem Klinikbett schon einige Stunden des neuen Tages durchlaufen hatte. War es gar schon vier Uhr, brauchte ich nicht mehr lange zu warten, bis die Schwester kam und mir die Waschschüssel neben das Bett stellte. 
Die Sonne steht schräg am Oktoberhimmel und gibt dem Garten einen Schimmer Gold. 

Nach schweren Erlebnissen gibt es eine Zeit, die ich als „Phase direkt danach“ bezeich-nen möchte. Wurde man bis zum letzten gefordert, besitzt man keine Kraft mehr, das Erlebte zu verarbeiten und zu bewältigen. Man schiebt es beiseite, will nichts davon hören und sehen. 
Das ist eine  Zeit für Volks- und Wanderlieder, aber auch eine Zeit der banalen, heiter gemeinten Hervorbringungen aller Art. Man sucht etwas, das nicht weh tut und doch die Gedanken für eine Weile beschäftigt. 
Ich denke, daß es solche Phasen beim Einzelnen, aber auch bei Völkern gibt. Manchmal stimmen sie überein. 

Wieder bin ich in der Gaststätte, die ich über den Weg in die Bläue erreiche. Wieder trinke ich Zitrone und esse Bockwurst. Aber die Trainingshosenzeit ist vorüber. 
Nach dem Essen trete ich zur Wand. Dort hängt ein Rahmen, in dem sich Fotos und ein Gedicht befinden. Die Wirtin tritt zu mir. Nein, sie wisse nicht, was es heiße, sie könne keine Sütterlinschrift lesen. Ich beginne zu buchstabieren. Habe ich ein Wort entziffert, setze ich die bekannten Buchstaben im nächsten Wort ein. Langsam entstehen die Zeilen: 

 Ihr, die ihr an Orten einsam 
 stille die Natur betrachtet, 
 liebt den Sonnenschein der Wiesen, 
 liebt den trauten Waldesschatten, 
 liebt den Wind dort in den Zweigen, 
 liebt den Regen und den Schneesturm, 
 liebt den Sommer in den Bergen... 
Seid willkommen ... 


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